Kesselexplosion der Werklok der BME-Centralwerkstätte in Witten (1872)

So oder so ähnlich sah die Lokomotive aus, die im September 1872 im Bahnhof Witten bei der Abnahmeuntersuchung explodierte. Die Skizze stammt aus der Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum der Hauptwerkstätte [Meyeringh 1913]. In einer Firmen-Broschüre von 1919 hat sich ein Bild des Typs I erhalten, der sehr starke Ähnlichkeiten mit der Skizze aufweist und die doch ungewohnte Bauart bestätigt. [Cockerill 1919]

Moritz Stambke, der Ober-Maschinenmeister der Bergisch-Märkischen Eisenbahn, berichtete im November 1872 bei der Sitzung des Westfälischen Bezirksvereins über die Kesselexplosion einer frisch an die BME abgelieferten Baulok im September 1872 im Bahnhof Witten. Dieser in der Zeitschrift des Vereines Deutscher Ingenieure wiedergegebene Bericht [Stambke 1872] liefert Details zu einer kaum dokumentierten Lokomotivgruppe.

Die explodierte Lok war die erste von drei von der Lokomotivfabrik Cockerill in Seraing gelieferten Lokomotiven. Anhand der Lieferliste und der Sekundärliteratur [Menninghaus 1990, S. 209] lassen sich für die Lokomotiven die Fabriknummern 778, 816 und 817 identifizieren.

Dem Bericht zufolge ereignete sich die Explosion bei der Abnahmefahrt im Bahnhof Witten. Wobei der Begriff „Abnahmefahrt“ eigentlich zu kurz greift. Der Beschreibung nach begann die Abnahmeuntersuchung bereits morgens um 9 Uhr. Ab diesem Zeitpunkt stand die Lok unter Dampf. Früh ergaben sich Schwierigkeiten mit dem Sicherheitsventil, das bei dem auf 10 Atm (in Belgien) bzw. 9 Atm (in Preußen) konzessionierten Kessel um 2 Atm zu früh abblies und sich auch nicht durch schärferes Spannen der Federn korrigieren ließ. Die Lok erhielt daher gegen 11 Uhr eine andere Federwaage, die auf 8,5 Atm. eingestellt wurde.
Nach dieser Reparatur erfolgte das Druckablassen einerseits zwar korrekt, andererseits aber so heftig, dass die Lok an einen anderen Ort gefahren wurde, um die Passagiere der Personenzüge nicht durch das Abblasgeräusch zu belästigen bzw. zu beunruhigen. – Wäre die Lok nicht umgesetzt worden, wäre die Anzahl der bei der Kesselexplosion verletzten Personen wahrscheinlich größer gewesen.

Die Explosion ereignete sich dann einige Stunden später um 15:15 h. Die Lok war zehn Minuten vorher auf ein Nebengleis rangiert worden. Bei der Explosion wurden die vier auf der Lok befindlichen Personen (Ingenieur, Werkführer, Lokführer und Heizer) und ein in der Nähe stehender Weichensteller getötet.

Als Explosionsursache wurde letztlich ein ovales Mannloch (Reinigungsöffnung) in der Kesselplatte identifiziert. Das ovale Loch war mit den Durchmessern 300 * 400 mm einerseits sehr groß und andererseits an seinen Rändern unverstärkt ausgeführt. Die Untersuchung ergab, dass von dem Loch aus wenigstens sechs Risse ausgingen. Außerdem waren die Zerstörungen in der direkten Umgebung des Mannloches am Größten. Stambke führt aus:

Die Betrachtung ergibt ferner, dass bei einem so großen Loche auf den Rest des Bleches nicht die Festigkeit des fehlenden Querschnittes gleichmäßig übertragen wird, sondern dass die Kanten des Mannloches unverhältnismäßig höher in Anspruch genommen werden, und hier die tangential wirkenden Kräfte die Grenze der absoluten Festigkeit sehr wohl erreicht haben. Dazu kommt noch der radiale Druck auf die ganze Fläche des wie gewöhnlich von innen eingelegten Mannlochdeckels, welcher auf ein Umbiegen der Mannlochkanten hinwirkt. Bei Versuchen mit den beiden anderen Lokomotiven gleicher Konstruktion bewirkte ein Druck von 15 Atm. in der Tat eine solche Ausbiegung der Mannlochkante, die in dem einen Fall sogar mit einer Größe von 2 bis 3 mm bleibend wurde.

Die Ursache der Explosion war demnach die Schwächung der Kesselplatte durch das Mannloch bei gleichzeitiger Verwendung von ungeschweißtem Blech. Bei den beiden anderen Maschinen wurden daher die Mannlöcher zu Handlöchern umgearbeitet, die zur Reinigung völlig ausreichten.

In der Bildmitte sehen wir die beiden Kesselschüsse. Im unteren war die Feuerkiste, in der oberen die senkrechten Feuerrohe untergebracht, die direkt zum Schornstein führten. Auf dem linken unten Bild ist der untere Kesselring abgewickelt und mit den Rissen der Explosion versehen.

Zur Bauart der Lokomotiven …

…liegen nur sehr wenige Informationen vor. Stambke erwähnt, dass es sich um Stehkessel-Lokomotive mit einem Treibraddurchmesser von „etwa 0,5 m“ handelte, die von der Lokomotivfabrik Cockerill in Seraing geliefert wurden. Der Kessel war auf 10 Atm konzessioniert. Sonst gibt der Bericht in der Zeitschrift des Vereines Deutscher Ingenieure nichts her. Die von Eisenbahnfreunden erstellte bzw. abgeschriebene Lieferliste gibt für die Loks den Typs III an.

Im INDUSTRIAL RAILWAY RECORD [Industrial Railway Record 1965] findet sich eine Aufstellung der Cockerill-Typen mit den Grundmaßen und Lieferzeiträumen. Demnach hatten die Treibräder des Typs III einen Durchmesser von 615 mm und die Zylindermaße lagen bei 250 x 260 mm. Im Zeitraum von 1872 bis 1927 wurden insgesamt 373 Exemplare gebaut. Das passt zu dem Lieferjahr und den Angaben von Stambke.

Prof. F. Gaiser nennt 1949 im Artikel „Lokomotivkessel-Explosionen im Gebiet des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen“ [Gaiser 1949] weitere konstruktive Details: Die Hauptabmessungen waren: „Triebwerk 250/260/615 mm, H 16,78 m², R 0,83 m², 10 atü, Rdst. 1600 mm, Lge. 1600 mm, Br. 2240 mm, Hö. ü. S. 3446 mm, W 2,1 m³, K 0,53 m³, DG 12,8 t“. Auch wenn unklar ist, ob sich diese Daten auch auf die Lokomotiven der 1870er Jahre beziehen oder doch auf einem jüngeren Werbeprospekt beruhen, so können sie doch einen guten Anhaltspunkt geben.

Alle drei Loks müssen 1872 gebaut und abgeliefert worden sein. Die tradierte Lieferliste gibt zwar als Baujahr 1873 an, allerdings passt dies nicht zu den Aussagen von Moritz Stambke. Er sagt im November 1872, dass sie „mit zwei anderen [Loks] derselben Konstruktion von Cockerill“ geliefert worden sei, dass bereits Versuche mit 15 Atm bei den beiden anderen Loks durchgeführt worden seien und dass „die fraglichen Maschinen im Uebrigen durchaus gut und zufriedenstellend seien“. Das kann man alles nur sagen, wenn die Loks bereits im Betrieb sind.

Die Sache mit den Doppelpuffern

Moritz Stambke spricht in seinem Bericht davon, dass die Loks bei „Bauausführungen verwendet werden“ sollten. Nun kann der Begriff „Bauausführungen“ vielfältig interpretiert werden: Waren es Bauloks der BME oder Werkloks der Centralwerkstätte für interne Bauarbeiten? Leider sind die Quellen hier nicht eindeutig. Allerdings gibt es Indizien, die eher für die Werkloks sprechen. Einerseits dürfte die Leistung der doch recht kleinen Maschinen sehr begrenzt gewesen sein und andererseits hat die skizzierte Lok Doppelpuffer. Das spricht eher für den Einsatz in der Centralwerkstätte. Durch die unterschiedlichen Pufferhöhen ließen sich im Werk auch kleinere Transport- und Arbeitswagen verschieben. Im Streckeneinsatz dürften nur „normale“ Güterwagen eingesetzt worden sein, bei denen der zweite Satz Puffer nicht benötigt wurde.

Eine zweite ungeklärte Frage ist, ob alle drei Lokomotiven tatsächlich bei der Centralwerkstätte eingesetzt wurden oder ob die Centralwerkstätte nur die Funktion des Bestellers übernommen hat und die Loks an Hauptwerkstätte weitergegeben wurden. Beides ist denkbar.

Weiterführende Literatur

In der Sekundärliteratur wird auf folgende frühere Schriften verwiesen, die ggf. weitergehende Informationen beinhalten können, aber bisher noch nicht eingesehen werden konnten:

Cockerill 1919
Societé Anonyme John Cockerill à Seraing: Locomotive à Chaudière verticale. Seraing 1919
=> Im Bibliotheks-Bestand des „Museum voor de Oudere Technieken“, Grimbergen.
http://www.industriespoor.nl/tekeningCockerillTypeIV.htm (Abgerufen: 30.06.2019, 0:56 UTC)

DB 1963
100 Jahre Bundesbahn-Ausbesserungswerk
Witten: 1863 – 1963; Jubiläumstag: 9. Juli 1963 / Bundesbahn-Ausbesserungswerk
<Witten>. – Hundert Jahre Bundesbahn-Ausbesserungswerk Witten. –
Frankfurt a.M.: DB, 1963. – 31 S.: Ill.; 8-o

Meyeringh 1913
Festschrift für die Feier des 50jährigen Bestehens der Königlichen Eisenbahn-Hauptwerkstätte in Witten am 13. Juni 1913. Witten 1913

Quellen und Literatur

Bei der Erstellung dieses Beitrags haben mich „Essenberger“, Michael Peplies („vauhundert“), Holger Vohns und Ansgar Völmicke mit Anregungen, Informationen und Literatur unterstützt. Herzlichen Dank!

DSO-HiFo 2019
Seite „Vor 100 Jahren… explodierte in Witten eine Baulok der BME (1872)“. In: Drehscheibe online – Historisches Forum. URL: https://www.drehscheibe-online.de/foren/read.php?017,8965994 (Abgerufen: 30.06.2019, 0:56 UTC)

Gaiser 1949
Gaiser, F.: Lokomotivkessel-Explosionen im Gebiet des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen. IN: Glasers Annalen Juni 1949, S. 104 – 106 (+ Nachtrag – Nicht zu Witten – 1949, S. 222)

Industrial Railway Record 1965
Seite „The French vertical boilered 0-4-0 shunter”. In: Industrial Railway Record. URL: [www.irsociety.co.uk] (Abgerufen: 10. Juni 2019, 18:45 UTC)

Menninghaus 1990
Menninghaus, Werner u.a.: Bergisch-Märkische Eisenbahn (1843-1881) – Ausbesserungswerk Witten. Uhle & Kleimann, Lübbecke 1990

Stambke 1872
Stambke, Moritz: Explosion eines Lokomotivkessels. Bericht bei der XLIV. Sitzung des Westfälischen Bezirksvereins. IN: Zeitschrift des Vereines Deutscher Ingenieure, Düsseldorf 1873, Spalte 124-128